Nordnorwegen hat in den vergangenen Jahren in gewissen Fjorden rekordverdächtige Walansammlungen erlebt. Was ist geschehen? Und was bedeutet dies für den Tourismus?
«Was ist denn heute los?» Irritiert blickt sich Ivar um. Kein Wal weit und breit im Andfjord. Keine markante Rückenflosse eines Schwertwals, kein langgezogener Rücken eines riesigen Finnwals und nicht eine einzige abtauchende mächtige Fluke eines Buckelwals. Das war am Vortag ganz anders. Man hatte sich hier in Andenes an der Nordspitze der nordnorwegischen Insel Andøya in den vergangenen Jahren schon fast gewöhnt an die täglichen erfreuten Ausrufe von Walforschern und Touristen: «The sea is boiling with whales!» – «Die See brodelt förmlich mit all den Walen!»
So schnell gibt Ivar nicht auf. Unbeirrt steuert er sein «Polarcirkel»-Schlauchboot mit verstärktem Unterboden weiter aufs Wasser hinaus. Die 12 Motorradsitz-ähnlichen Sitzplätze sind voll besetzt mit erwartungsvollen Wal-Touristen. Der Andfjord ist eigentlich kein Fjord, sondern vielmehr eine weite Bucht, gegen 30 Kilometer breit und 40 Kilometer lang, eingerahmt von den Inseln Andøya, Hinøya und Senja, der größten und zweitgrößten norwegischen Insel. Sie wirken eher wie Landmassen, getrennt nur durch schmale Sunde. Im Andfjord ist dagegen viel offenes Wasser, um doch noch Cetaceen (Wale und Delfine) zu entdecken; zudem ist er nach Norden, zum Polarmeer hin offen.
800 Orcas im Fjord
«Vielleicht werden wir uns schon bald daran gewöhnen müssen, dass es hier im Winter wieder so aussieht», meint Ivar, während er das PS-starke Schnellboot so schnell es das aufgewühlte Meer erlaubt, immer weiter hinaussteuert: «Weit und breit keine Wale.» In der Tat ist es keine Selbstverständlichkeit, was im Andfjord zwischen 2012 und 2016 geschah. Plötzlich waren sie da. Von einer Saison auf die nächste. Dutzende, ja Hunderte von Walen. Hauptsächlich Schwertwale und Buckelwale, aber auch Finnwale und einige Zwergwale fanden sich ein. Sie folgten enormen Heringsschwärmen, die ab 2012 in den Andfjord strömten.
Ein beispielloses Spektakel. Schwertwale, auch Orcas genannt, und Buckelwale, die den Orcas ansonsten stets aus dem Weg gehen, stellten dem Hering bisweilen Seite an Seite nach. Unschwer gelangen Aufnahmen, in denen gleichzeitig bis zu drei verschiedene Walspezies zu erkennen waren. Anfang 2014 wurde eine Gesamtzahl von rund 800 Orcas geschätzt, die sich gleichzeitig im Andfjord aufhielten – Weltrekord auf so kleinem Raum. Das sprach sich herum. Filmteams aus aller Welt fanden sich ein. Und den Walen folgten immer mehr Waltouristen. Plötzlich waren die beiden Hotels und alle anderen Unterkünfte in Andenes von November bis in den Februar hinein ausgebucht. Die Wale zogen einen unvermittelten, nie dagewesenen Winterboom und Geldsegen für die 3000-Seelen-Gemeinde nach sich.
Spekulationen zum Spektakel
Geir Mann ist ein norwegischer Whalewatching-Pionier der ersten Stunde. Schon in den frühen 90er Jahren funktionierte er seinen Fischkutter «Reine» zu einem Touristenschiff für die Walbeobachtung um. Während der Sommerzeit fuhr er die Gäste etliche Seemeilen ins offene Meer hinaus zu einer Gruppe von Pottwalen, die sich mit grosser Wahrscheinlichkeit in einem überschaubaren Revier beobachten lassen. Sie benutzen die Unterwasserschluchten des Bleik Canyon, um in die Tiefsee abzutauchen und dort Riesenkalmare zu jagen. Nirgendwo sonst in Norwegen kommt der tiefe Ozean so nahe ans Festland heran wie ausserhalb von Andenes. Auch Geir (in Norwegen sprechen sich alle nur mit Vornamen an) konnte über das unvermittelte Auftauchen so vieler Wale im Winter nur verwundert die Augen reiben. Plötzlich standen die Touristen beim ihm auch im Winter Schlange.
Und die Glücklichen trauten ihren Augen nicht. Wale in Sicht, noch bevor das Leuchtfeuer an der Hafenausfahrt passiert war. Einige Minuten später auf dem Andfjord draussen wusste man buchstäblich nicht mehr, wohin blicken. Es kochte förmlich von Walen rund ums Schiff, die auftauchten, um Schwärme von Heringen zu vertilgen, die verzweifelt in die Luft sprangen, um sich zu retten. Zum Ende erklärten die Guides und Walexperten an Bord, welche selber nur ungläubig den Kopf schüttelten, es sei unmöglich, die genaue Anzahl der gesichteten Wale anzugeben. «Finnwale: ein geschätztes Dutzend. Buckelwale: geschätzte 30 bis 40. Orcas: über 100.» Wie lange würde dieses sagenhafte Naturspektakel, dieser unverhoffte Segen für den lokalen Tourismus andauern? Man konnte nur spekulieren – und investieren oder es bleiben lassen.
Sensationelle Bedingungen
Geir war in der glücklichen Lage, seit Jahrzehnten mit seinem rund 80 Gäste fassenden Kutter vor Ort zu sein. Andere mussten sich erst etablieren. Der Überfluss der Heringsschwärme und aller Tiere, die ihnen folgen, ist bekannt dafür, so schnell zu versiegen, wie er gekommen ist, bzw. Überwinterungsgebiete und Wanderrouten zu wechseln (siehe auch Infobox). Bis gegen 2006 strömten über mehrere Jahre von November bis Januar riesige Heringsschwärme und ihnen folgend die Wale in die Region Tysfjord südlich der Lofoten als Winterquartier. Die Fjorde erlaubten spektakuläres Whalewatching mit ruhiger See. Erstmals etablierte sich auch das Angebot des Schwimmens mit Orcas.
Dann verschwand der Hering und damit auch seine Jäger für mehrere Jahre aufs offene Meer in der Norwegischen See, um schließlich ab 2012 plötzlich rund 250 Kilometer weiter nördlich an Küstengebieten der Inselgruppe Vesterålen und im Andfjord zu überwintern. Es sollte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie auch von da wieder weiterziehen würden. Januar 2015. Ivar sucht den Horizont von seinem Polarcirkel-Boot aus weiterhin vergebens nach Walen ab. Das Meer bleibt leer. Das kurze Tageslicht im winterlichen Hohen Norden wird bald zur Umkehr zwingen.
Abschussquote erhöht
Warum aber überhaupt ein derartiger Fischreichtum in norwegischen Gewässern? Offensichtlich, weil Norwegen in Sachen nachhaltiger Fischerei vieles richtig macht. Das war nicht immer so. Insbesondere zur Mitte des 20. Jahrhunderts überfischte auch Norwegen seine Bestände massiv. So kollabierten beispielsweise in den 1960ern die Bestände des Nordseeherings innerhalb weniger Jahre. Der Nordseehering wurde aber auch zum Beispiel, dass sich ein Bestand erholen kann, wenn man ihn lässt. So wurde die Heringsfischerei zwischen 1977 und 1981 komplett verboten und der Bestand erholte sich. Heute befischen Länder wie Norwegen und Island ihre Bestände dank strengen Quotenregelungen relativ nachhaltig. Gleichzeitig liegen die Fangquoten der EU im Durchschnitt 35 Prozent über der von der Wissenschaft empfohlenen Fangmenge. Dies übrigens mit ein entscheidender Grund, warum die Norweger einen EU-Beitritt mit überwältigender Mehrheit ablehnen.
Wo reichlich Fisch schwimmt, sind meist auch die Wale nicht weit. Dies führt zum Paradox, dass ausgerechnet das Walfangland Norwegen besonders viele Wale anlockt. Die Walvorkommen und das damit verbundene Whalewatching sind in gewissen Gebieten der norwegischen Arktis mittlerweile durchaus zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Auf den norwegischen Walfang hat dies aber vorderhand keine Auswirkungen. Denn der Waltourismus, der vor allem auf Orcas, Buckelwale und Pottwale fokussiert, kommt mit dem Walfang – Norwegen bejagt nur Zwergwale – selten in Konflikt. Für die Walfangsaison 2018 ist die Abschussquote für Zwergwale gegenüber dem Vorjahr sogar von 999 auf 1278 erhöht worden. Nun werden aus Fischereikreisen sogar Rufe laut, auch andere Arten, wie den Buckelwal und den Schwertwal, wieder auf die Abschussliste zu setzen, mit der Begründung, diese frässen zu viel Fisch.
Zutrauen als Verhängnis?
So weit wird es aber wohl nicht kommen, denn selbst der Fang von Zwergwalen war in den letzten Jahren rückläufig. Die Nachfrage nach Walfleisch fehlt, und auch die Fischer, die eine Walfang-Lizenz haben, sind immer weniger motiviert, noch Wale zu schiessen. Ihnen fehlt der finanzielle Anreiz oder die Generationen-Nachfolge. Jagten in den 1950er Jahren noch rund 350 norwegische Boote Wale, sind es 2017 gerade noch elf gewesen. Diese erlegten insgesamt 432 Tiere, im Vergleich zu 591 im Jahr 2016, und 660 im Jahr 2015. Zudem müssen selbst eingefleischte Fischer und Walfangbefürworter einräumen, dass die Fischbestände in norwegischen Gewässern sich erholt haben, während gleichzeitig auch die Walbestände insgesamt zugenommen haben. So lässt sich natürlich schwerlich den Walen zuschieben, sie frässen zu viel Fisch.
Sicher ist: heute ist Whalewatching in Norwegen schon rein wirtschaftlich bedeutender als die Waljagd. Bereits 2008 nahmen rund 35’000 Menschen an Walbeobachtungstouren teil. Mittlerweile sind es deutlich mehr. Der norwegische Fang von Zwergwalen löst übrigens nicht nur internationale Kritik ganz allgemein aus, sondern auch Konflikte mit ausländischen Whalewatch-Anbietern. Beispiel Whitby Whale Watching an der englischen Nordseeküste: Skipper Bryan Clarkson, ein ehemaliger Fischer, bietet seit mehreren Jahren Waltouren vom historischen Ort Whitby aus. Er macht sich grosse Sorgen. Die in Whitby am häufigsten beobachtete Walart sind Zwergwale. «Die Tiere sind sehr lebhaft und geradezu zutraulich. Sie ermöglichen unseren Gästen einmalige Erlebnisse. Wenn sie nun bloss einige hundert Kilometer weiterwandern, zur norwegischen Küste hinüber, wird ihnen dort die gleiche Zutraulichkeit zum Verhängnis, wenn sie sich neugierig Walfangbooten annähern, die dem meinen nicht unähnlich aussehen.»
Wie eine Stampede
Ivar denkt an Umkehr. Rund 10 Seemeilen ausserhalb von Andenes brettert sein Schlauchboot bei Minusgraden über die Wellen. «Da!» Plötzlich hält er inne. «Nun weiss ich, warum die Wale verschwunden sind!» Kurz darauf sehen es alle an Bord. Einige Hundert Meter weiter drüben schäumt das Wasser an einer Stelle förmlich. «Grindwale!» Eine Schule von mehr als Hundert der bis zu sechs Meter langen Meeressäuger schwimmt synchron gegen den Andfjord zu. Kraftvoll und elegant gleichzeitig tauchen ihre schwarz glänzenden Leiber immer wieder auf, wie eine Stampede auf See. Längst haben alle anderen Wale in der Umgebung ihr Kommen gespürt und gehört und Reissaus genommen. Grindwalen geht jeder andere Wal aus dem Weg. Wir, die glücklichen Walbeobachter an Bord, aber erleben ein einmaliges Schauspiel, während das Polarcirkel-Boot die Schule in respektvollem Abstand eine Weile begleitet.
Danach ist das Meer wieder leer. Ein Vorgeschmack? Ein Jahr später, 2016, kommen die Wale zwar noch in den Andfjord, aber bereits in geringerer Zahl. Das Jahr darauf bleiben sie ganz aus. Sie haben sich weiter nordöstlich, Richtung Tromsø verlagert und in der grössten Stadt nördlich des Polarkreises wie schon die Jahre zuvor einen veritablen Whalewatching-Boom ausgelöst. Im Winter 2018 tauchen sie auch da nicht mehr auf, sondern sind dem Hering nun um die Insel Skjervøy auf der Spur. Ist es der Klimawandel, dass der Hering sein Winterquartier immer weiter nördlich sucht? Oder ein natürlicher Zyklus? Oder ist es eine Kombination? Sicher ist: Das Whalewatching in Norwegen ist zurzeit so dynamisch wie Heringswanderung, der die Wale folgen, selbst.
Die lange Wanderung der Heringe
Der Kreislauf beginnt im Februar und März mit dem Laichen der Norwegischen Heringe vor der norwegischen Westküste. Sobald die Larven nach rund drei Wochen geschlüpft sind, treiben sie mit dem Golfstrom Richtung Norden, in die Barentssee, wo sie im Sommer ankommen und dann während drei bis vier Jahren heranwachsen. Als Kraftfutter dient ihnen Calanus finmarchicus. Diesem rund zwei Millimeter grossen Ruderfußkrebs kommt innerhalb der marinen Nahrungskette grösste Bedeutung zu. Er dient neben den Heringslarven auch den ausgewachsenen Heringen, sowie Korallen, Makrelen, Kabeljau, Schellfischen, Garnelen, Wasservögeln und selbst den Walen als veritables Kraftfutter. Der Ruderfußkrebs ist reich an Eiweiß und wertvollen Omega-3-Fettsäuren und enthält darüber hinaus große Mengen an Antioxidantien.
Die ausgewachsenen Heringe wandern derweil nach der Eiablage ins Norwegische Meer, wo sie sich ebenfalls mit den Ruderfußkrebsen stärken. Im Oktober sind die Heringe schliesslich in ihren Winterquartieren angelangt, von wo sie Ende Januar erneut zu den Laichgründen aufbrechen. Während sich ein wichtiges Winterquartier der Heringe bis um das Jahr 2005 südlich der Lofoten befand, verlagerte sich dieses anschliessend ins offene Meer und ab 2012 zu den Küstengebieten der Vesterålen-Inselgruppe und östlich davon. Mittlerweile liegt das Winterquartier noch weiter nordöstlich, vor der Insel Skjervøy. Die Ursache für diese nördliche Verlagerung ist umstritten. Am nächsten liegt jedoch die Vermutung, dass die Erwärmung der Meere eine Rolle spielt. Da viele Orcas und auch Buckelwale den Heringen folgen, sind deren Wanderungen auch für die Walbeobachtung in Nordnorwegen von grosser Bedeutung. (hpr)